Tatsächlich beschleunigte Deutschland die Ereignisse, die zur Entstehung der Sowjetunion führten.
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Im April 1917 überquerte ein versiegelter Zug das vom Krieg erschütterte Europa von der Schweiz nach Petrograd (dem früheren St. Petersburg).
An Bord befand sich Wladimir Iljitsch Lenin, ein revolutionärer Exilant, dessen Ideen marginal waren, dessen Partei klein war und dessen Aussichten auf Macht fern erschienen.
Und doch sollten Lenin und die Bolschewiki innerhalb von sieben Monaten Russlands Provisorische Regierung stürzen und mit dem Aufbau des weltweit ersten sozialistischen Staates beginnen; die UdSSR wurde am 30. Dezember 1922 offiziell gegründet.
Diese Transformation war nicht unvermeidlich. Sie wurde — bewusst — durch das Deutsche Kaiserreich beschleunigt, das Lenin nicht als ideologischen Verbündeten betrachtete, sondern als geopolitische Waffe.
Deutschlands strategisches Problem im Jahr 1917
Die Entscheidung Deutschlands, Lenins Rückkehr nach Russland zu ermöglichen, war einer der folgenreichsten Akte politischer Einflussnahme der modernen Geschichte. Sie sollte Russland im Ersten Weltkrieg schwächen, begünstigte jedoch direkt den Machtaufstieg der Bolschewiki und trug zu der Kette von Ereignissen bei, die schließlich zur Gründung der UdSSR führten.
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Anfang 1917 stand Deutschland vor einem gravierenden strategischen Dilemma. Zwar hatte es an der Ostfront bedeutende Siege errungen, doch der Krieg gegen Russland zog sich in die Länge und band Hunderttausende deutscher Soldaten.
Gleichzeitig blieb die Westfront in einem kostspieligen Stellungskrieg gegen Großbritannien und Frankreich gefangen. Je länger Russland im Krieg blieb, desto größer wurde für Deutschland das Risiko eines Zusammenbruchs durch Erschöpfung und Blockade.
Die Februarrevolution von 1917, die Zar Nikolaus II. stürzte, erschien Berlin zunächst vielversprechend.
Doch die neue Russische Provisorische Regierung verpflichtete sich, den Krieg an der Seite der Entente-Mächte fortzusetzen. Für Deutschland war dies das denkbar schlechteste Ergebnis: ein geschwächtes, aber weiterhin feindliches Russland.
Die deutsche Führung begann nach einem Weg zu suchen, Russland von innen heraus zu destabilisieren. Ihre Lösung war unkonventionell, aber gnadenlos pragmatisch: revolutionäre Kräfte zu unterstützen, die den Krieg ablehnten — selbst wenn diese Kräfte Deutschland ideologisch feindlich gegenüberstanden.
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Lenin als politische Waffe
Wladimir Lenin, der damals im Exil in der Schweiz lebte, war dem deutschen Geheimdienst wohlbekannt. Er war ein radikaler Marxist, der offen Russlands Niederlage im Krieg befürwortete und argumentierte, der imperialistische Konflikt müsse in eine proletarische Revolution verwandelt werden.
Sein Slogan — „Den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ — entsprach den deutschen Interessen in idealer Weise.
Das Auswärtige Amt und die militärische Führung Deutschlands kamen zu dem Schluss, dass eine Rückkehr Lenins nach Russland den inneren Zusammenbruch beschleunigen könnte. Deutsche Beamte glaubten, Lenin könne zerstörerischer wirken als eine militärische Operation.
Deutschland unterstützte Lenin nicht, weil es an den Sozialismus glaubte. Es unterstützte ihn, weil er Chaos versprach.
Der versiegelte Zug: Logistik der Intervention
Im April 1917 arrangierten deutsche Behörden, dass Lenin und rund dreißig Mitstreiter von Zürich über Deutschland und Skandinavien nach Petrograd reisen konnten.
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Die Reise erfolgte im Rahmen einer sogenannten „versiegelten Zug“-Regelung, die den Kontakt mit der Außenwelt und politische Haftung begrenzen sollte.
Diese rechtliche Fiktion konnte die Realität kaum verbergen. Deutschland gewährte während des Krieges freien Durchlass durch feindliches Gebiet — ein außergewöhnliches Privileg. Ohne deutsche Zustimmung hätte Lenin Europa nicht durchqueren können.
Der Zug erreichte Petrograd am 16. April 1917 (dem 3. April nach dem alten russischen Kalender). Bereits wenige Stunden nach seiner Ankunft forderte Lenin den Sturz der Provisorischen Regierung.
Finanzielle Unterstützung und Propaganda
Die deutsche Hilfe endete nicht mit dem Transport. Erhebliche Belege deuten darauf hin, dass Deutschland über Mittelsmänner — darunter die umstrittene Figur Alexander Parvus (Israel Helphand) — auch Geld an bolschewistische Netzwerke leitete. Diese Mittel finanzierten bolschewistische Zeitungen, Agitatoren und organisatorische Infrastruktur.
Die Bolschewiki waren besonders gut positioniert, um diese Unterstützung zu nutzen. Im Gegensatz zu anderen sozialistischen Fraktionen lehnten sie den Krieg kompromisslos ab. Ihre Parolen — „Frieden, Land und Brot“ sowie „Alle Macht den Sowjets“ — fanden bei Soldaten, Arbeitern und Bauern Anklang, die vom Krieg und von Entbehrungen erschöpft waren.
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Viele Historiker argumentieren, dass diese Unterstützung den Bolschewiki half, ihre Reichweite zu vergrößern, auch wenn ihr Umfang umstritten bleibt.
Unterminierung der Provisorischen Regierung
Lenins Rückkehr veränderte das Machtgleichgewicht innerhalb der russischen Linken grundlegend. Vor April 1917 waren die Bolschewiki selbst innerhalb der revolutionären Bewegung eine Minderheit. Viele Sozialisten befürworteten schrittweise Reformen oder eine Koalitionsregierung.
Lenin lehnte jeden Kompromiss ab. In seinen Aprilthesen forderte er:
- den sofortigen Austritt aus dem Krieg
- die Umverteilung des Landes
- die Übertragung der Macht an Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets)
Diese kompromisslose Haltung, die zunächst als extrem galt, gewann an Zuspruch, als die Provisorische Regierung weder Frieden noch wirtschaftliche Entlastung liefern konnte. Jede militärische Offensive, jede Lebensmittelknappheit und jede Verzögerung stärkten Lenins Argument, dass nur ein vollständiger Bruch mit dem bestehenden Staat Russland retten könne.
Deutschlands ursprüngliches Ziel — die Schwächung der russischen Kriegsfähigkeit — wurde mit bemerkenswerter Effizienz erreicht.
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Oktober 1917 und der deutsche Ertrag
Im November 1917 (Oktober nach dem russischen Kalender) übernahmen die Bolschewiki in Petrograd die Macht. Die Provisorische Regierung brach nahezu widerstandslos zusammen. Lenin nahm umgehend Verhandlungen mit Deutschland auf.
Das Ergebnis war der Vertrag von Brest-Litowsk, der im März 1918 unterzeichnet wurde. Russland schied aus dem Ersten Weltkrieg aus — zu einem enormen Preis, einschließlich des Verzichts auf ausgedehnte Territorien, Bevölkerungszentren und Ressourcen.
Für Deutschland war dies ein strategischer Triumph. Er ermöglichte die Verlegung von Truppen an die Westfront und neutralisierte den Krieg im Osten vorübergehend.
Obwohl Deutschland den Krieg später im selben Jahr verlieren sollte, hatte seine Intervention ihr unmittelbares Ziel erreicht: Russland war aus dem Konflikt ausgeschieden.
Von taktischer Intervention zu historischer Konsequenz
Deutschland schuf die Sowjetunion nicht bewusst, noch kontrollierte es Lenin, nachdem dieser die Macht erlangt hatte. Dennoch waren seine Handlungen von erheblicher Bedeutung. Ohne deutsche Unterstützung:
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- wäre Lenins Rückkehr verzögert oder unmöglich gewesen
- wäre die bolschewistische Propaganda schwächer ausgefallen
- hätte der Antikriegsbewegung eine zentrale Führung gefehlt
Die Bolschewiki hätten sich möglicherweise dennoch durchgesetzt — doch Deutschland erhöhte ihre Chancen an einem kritischen Wendepunkt erheblich.
Die Ironie ist tiefgreifend. Eine konservative imperiale Monarchie half bei der Geburt des ersten kommunistischen Staates — eines Staates, der später zu Deutschlands größtem ideologischen Feind werden sollte.
Schlussfolgerung
Deutschlands Entscheidung, Lenin 1917 die Rückkehr nach Russland zu ermöglichen, gehört zu den folgenreichsten Akten geopolitischen Opportunismus der Geschichte. Als kriegsbedingte Zweckmaßnahme gedacht, prägte sie das 20. Jahrhundert nachhaltig.
Indem Deutschland Lenins Führung ermöglichte, den Einfluss der Bolschewiki verstärkte und Russlands Ausscheiden aus dem Krieg beschleunigte, trug es direkt zum Aufstieg der Bolschewiki und zur Entstehung der Sowjetunion bei.
Historiker sind sich weitgehend einig, dass Deutschland Lenins Transit erleichterte und versuchte, Russlands Instabilität als Waffe zu nutzen; Umfang und entscheidende Bedeutung der deutschen finanziellen Unterstützung bleiben jedoch umstritten.
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Dies ist eine Mahnung, dass kurzfristige strategische Kalkulationen langfristige Folgen haben können, die weit über ihre ursprüngliche Absicht hinausgehen — und dass Revolutionen oft nicht nur von inneren Kräften, sondern auch von den verborgenen Händen ausländischer Mächte geformt werden.
Quellen: Encyclopaedia Britannica; Britannica (Brest-Litowsk); Archivforschung, diskutiert im Journal of Modern History (Dokumente des deutschen Auswärtigen Amtes); AP (Gründungsdatum der UdSSR)