Geschichte wird in der Außenpolitik oft verdichtet erzählt. In angespannten Zeiten soll sie Orientierung geben und Verbündete überzeugen. Doch aktuelle Debatten in Finnland und auf EU-Ebene zeigen, wie schnell solche historischen Kurzformeln an Grenzen stoßen.
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Wie der finnische öffentlich-rechtliche Sender Yle berichtet, haben jüngste Aussagen führender Politiker:innen eine Diskussion über den Umgang mit Russlands Geschichte ausgelöst. Im Zentrum der Debatte steht die Behauptung, Russland habe im vergangenen Jahrhundert zahlreiche Nachbarstaaten angegriffen, ohne selbst Ziel eines Angriffs zu werden.
Finnlands Außenministerin Elina Valtonen sagte in einem Interview mit dem US-Sender CBS: „In den vergangenen hundert Jahren hat kein einziges Nachbarland Russland angegriffen. In den vergangenen hundert Jahren hat Russland 19 seiner Nachbarstaaten angegriffen.“
Auch EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas äußerte sich Ende November ähnlich und sprach davon, Russland habe in den vergangenen hundert Jahren mehr als 19 Länder angegriffen.
Historische Einwände
Nach Einschätzung von Außenpolitikforscher:innen greift diese Darstellung zu kurz. Yle zitiert den Wissenschaftler Matti Pesu vom Finnischen Institut für Internationale Politik, der auf Finnlands Rolle im Jahr 1941 verweist.
„Es war ein Angriff, auch wenn unsere außenpolitische Führung der Ansicht war, dass er gerechtfertigt gewesen sei und es eigentlich keine Alternativen gegeben habe“, sagte Pesu mit Blick auf den Angriff Finnlands gegen die Sowjetunion als Teil der Operation Barbarossa.
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Erinnerung und Wirkung
Pesu warnt davor, dass historisch ungenaue Aussagen die Glaubwürdigkeit politischer Botschaften schwächen. Der Einwand betrifft mehr als einen historischen Punkt. In Finnland wird historische Genauigkeit in der Außenpolitik traditionell hoch bewertet.
Pesu sieht laut Yle in den Aussagen auch eine strategische Botschaft an die USA. Die russische Bedrohung werde betont, um Washington enger an europäische Positionen im Ukraine-Krieg zu binden.
Solche Muster sind nicht auf Finnland beschränkt. Auch in anderen EU-Staaten werden historische Analogien genutzt, um sicherheitspolitische Dringlichkeit zu unterstreichen.
Ungenauigkeiten können jedoch von politischen Gegnern aufgegriffen werden. Laut Yle wurde die Äußerung der finnischen Außenministerin bereits von russischer Propaganda genutzt.
Quellen: CBS, EEAS, Yle