Kaum ein anderes Land macht derzeit so sichtbar wie Italien, wie tief Sexualkunde gesellschaftliche Grenzen berührt. Während die Regierung in Rom das Thema einhegt, arbeiten Kommunen und Forscher:innen an Gegenmodellen. Auch der Blick in andere europäische Staaten zeigt, wie zersplittert die Lage ist.
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Nach Angaben des ZDF plant die Regierung von Giorgia Meloni ein Gesetz, das Sexualkunde in Italien nur an weiterführenden Schulen erlaubt — und auch dort ausschließlich, wenn Eltern schriftlich zustimmen. Jüngere Kinder wären komplett ausgeschlossen. Meloni sagte der Nachrichtenagentur LaPresse: „Die Familie bleibt der wichtigste Ort für die Erziehung von Kindern.“
Im Parlament sorgte das laut ZDF für harte Wortgefechte. Abgeordnete der Movimento 5 Stelle und des Partito Democratico warnten, dass fehlende Aufklärung Gewalt fördere.
Matteo Salvini wies dies brüsk zurück und sprach von „Genderideologien oder ähnlichem Dreck“. Eine Szene sorgte besonders für Aufmerksamkeit: „Sex ist etwas Natürliches … Wir alle haben Sex, ich habe Sex und ich schäme mich nicht, das auch hier in diesem Saal zu sagen“, erklärte Chiara Appendino.
Wissenschaftliche Stimmen
ZDF zufolge mahnt die Psychologin Erica Limoncin von der Universität La Sapienza, dass Kinder heute vor allem anatomisches Grundwissen erhalten, aber kaum Orientierung zu Gefühlen und Beziehungen. „Die Sexualkunde gibt Kindern einen Raum und auch das Recht auf richtige Informationen und kann so Aggressionen verhindern“, sagte sie.
Fachleute verweisen seit Jahren darauf hin, dass Italien eines der letzten westeuropäischen Länder ohne verpflichtenden Unterricht ist — ein Punkt, der in Bildungskreisen immer wieder Verwunderung hervorruft.
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Genua setzt ein Zeichen
Während Rom bremst, probiert Genua ein Modell, das in Italien fast einzigartig ist. Die Bürgermeisterin Silvia Salis will laut ZDF ab 2026 Drei- bis Sechsjährige behutsam mit Themen wie Gleichberechtigung und respektvollen Beziehungen vertraut machen.
Rund 300 Kinder sollen teilnehmen, ergänzt durch Elternprogramme. „Es ist unmöglich zu glauben, dass es keinen Bedarf an sexueller Bildung gibt“, sagte sie. Das Projekt wurde vielerorts als Versuch gewertet, die Debatte aus dem politischen Würgegriff zu lösen.
Europa im Mustervergleich
Wie Der Standard berichtet, stehen zahlreiche Länder vor ähnlichen Auseinandersetzungen. Einige Staaten bieten nur minimale oder freiwillige Module an, etwa Kroatien oder Rumänien, wo Sexualkunde teils auf wenige biologische Inhalte reduziert bleibt.
Andere Länder verfügen über Gesetze, die in der Praxis aber nur bruchstückhaft umgesetzt werden — etwa Frankreich oder Litauen, wo Schüler von seltenen, oberflächlichen Einheiten berichten.
Zu den Ländern mit etablierten Programmen zählt Österreich: Dort ist Sexualkunde seit Jahren in mehreren Fächern verankert, begleitet von geprüften externen Angeboten. Auch in Deutschland ist der Sexualkundeunterricht verpflichtend.
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Eine Analyse des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit und des IPPF European Network zeigt, dass zwar viele Staaten rechtliche Grundlagen geschaffen haben, doch verpflichtende und umfassende Programme bleiben selten.
Besonders groß sind laut der Studie die Lücken in der Fortbildung des Lehrpersonals. Der Befund wirkt umso schwerer, da konservative und progressive Lager europaweit sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Schule über Sexualität sprechen sollte.
Quellen: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit, Der Standard, ZDF